Philippinen

 
Ich bewarb mich 1984 als junger Facharzt für Anästhesie bei der damals ziemlich neuen Organisation "Ärzte für die 3. Welt" für einen 6-wöchigen Einsatz.
Zwei Orte standen damals zur Auswahl: Manila auf den Philippinen oder Mumbai in Indien, welches ja bis 1996 noch offiziell Bombay hieß. Man schickte mich nach Manila.
Mein gesamter Jahresurlaub plus freier Tage zusammen ergaben genau 6 Wochen. Ich zahlte die Hälfte des Flugpreises aus eigener Tasche und lernte auf dem Hinflug meine sympathischen und kompetenten Teamkollegen kennen: Dr. Hubert Hayek, Kinderradiologe aus dem Wilhelmstift, Hamburg und Dr. Thomas Schairer, Zahnarzt aus Freiburg.
 
Wir wohnten in einem von der Organisation gemieteten Häuschen mit drei Zimmern mitten in Tondo. Tondo war damals einer der übelsten Slums Südostasiens. Die Taxifahrer weigerten sich, nach Anbruch der Dunkelheit hineinzufahren. Aber es spielten viele fröhliche Kinder auf der Straße, es wimmelte Tag und Nacht vor unserer Haustüre, Musik und Geräusche ohne Ende. Ansonsten Unrat in jeder Ecke, vermüllte Wasserläufe, Blechhütten oder sonst irgendwie zusammengeschusterte Unterkünfte aus dem Material, welches gerade zu bekommen war.
 
Das Canossian Health Care and Social Center in Tondo war unsere Basis. Es wurde geführt von den Canossian Sisters of Charity, geradezu unglaublich fröhlichen, engagierten und tatkräftigen Frauen, welche sich jeden Tag aufs Neue dem Elend entgegen stemmten. Hier hielten wir Sprechstunde, untersuchten, stellten Rezepte aus, berieten und waren uns unserer Unzulänglichkeit sehr bewußt. 
 
80% unserer Patienten waren Kinder. Hauptprobleme waren meistens Wurmerkrankungen, erkenntlich an aufgetriebenen Bäuchen, Mangel- oder Fehlernährung sowie Haut- und Atemwegserkankungen. Hin und wieder mußten auch kleinere chirurgische Eingriffe, wie z.B. Versorgung von Platzwunden, Schnittverletzungen oder Abszessen, durchgeführt werden. Bei den Erwachsenen fielen die doch sehr häufigen Strumen (Kröpfe) auf. Tuberkulose in den verschiedensten Stadien hatte ich vorher nie gesehen: hier, geschuldet den unsäglichen Lebensumständen, war sie ständiger Begleiter. Und was hätte man auch tun können? Weder konnten die sozialen und hygienischen Bedingen geändert werden, noch war eine konsequente Therapie auch nur im Traum darstellbar. Es war bedrückend.
 
Zweimal in der Woche packten die Canossa-Schwestern Kisten mit Medikamenten, Instrumenten und Verbandsmaterial und ab ging es zur Ambulanz auf den "Smokey Mountain", einer seit über 40 Jahren aufgetürmten gigantischen Müllkippe in Tondo, auf der rund 30.000 Menschen, darunter viele, viele Kinder, ihren kümmerlichen Lebensunterhalt durch den Verkauf von gesammelten und sortierten Flaschen, Pappen, Papier, Metallteilen etc. verdienten. Rauchschwaden von Bränden, hervorgerufen durch Gärungen und oxydative Prozesse hingen ständig über Teilen des Gebietes und gaben "Smokey Mountain" den zutreffenden Namen. Dazu kamen noch Ruß und Rauch aus der primitven Kohleherstellung aus gefundenen Holzstücken. Bitterer und fauliger Geruch überall.
Die erbärmlichen Hütten aus verschiedensten Materialen, welche die Bewohner auf der Müllkippe errichtet hatten, boten einen jammervollen Eindruck. Überall Kinder in verschlissenen Hosen und T-Shirts, teilweise barfuß, vor Schmutz starrend und mit Hautkrankheiten, viele, wie die Erwachsenen, bereits mit dem Auflesen von verwertbaren Materialien beschäftigt - aber trotzdem: Kinderlachen, Neugierde, Fröhlichkeit.
Vor unseren öffentlichen "Behandlungsplätzen" drängelte sich eine nicht abreißende Schlange vor allem von Müttern mit ihren kleinen Kindern. Mit Hilfe der Schwestern erfragten wir die Beschwerden, untersuchten, nähten, eröffneten Abszesse, teilten Medikamente aus, sprachen gut zu. Am Ende war jeder erschöpft und ich fühlte mich ein weiteres Mal so entsetzlich hilflos. Als buchstäblicher Tropfen auf dem heißen Stein.
 
Dr. Hubert Hayek verdanken die Kinder von Tondo viel: initiierte er doch mit wirklich großem Engagement ein Impfprogramm, welches unseren Einsatz lange überdauerte und von den nachfolgenden Kolleginnen und Kollegen fortgeführt wurde.
 
Auch Dr. Thomas Schairer leistete ein Riesenpensum, arbeitete praktisch im Akkord und rettete und zog vermutlich mehr Zähne als jemals zuvor in seinem Zahnarztdasein. Soviel ich weiß, ist er auch heute noch in seinem Urlaub auf den Philippinen tätig.
 
Nachdem 1995 unter dem Präsidenten Fidel Ramos die Behausungen der Slumbewohner auf dem Smokey Mountain gewaltsam geräumt und anschließend zerstört wurden, wurde den meisten Menschen dort gleichzeitig auch die Existenzgrundlage entzogen. Das als Ausgleich versprochene Wohnungsbauprogramm wurde nicht einmal zur Hälfte verwirklicht, zugesagte Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten nicht geschaffen. Ein Teil des Müllgebirges wurde "begrünt", auf weiten Teilen stehen wieder Elendshütten wie zuvor. Derweilen wurden in Tondo andere Müllkippen eröffnet; die Resteverwertung aus den Ausscheidungen einer Metropole mit rund 12 Millionen Einwohnern geht weiter. Übrigens leben rund die Hälfte der Einwohner von Metro-Manila unter Slumbedingungen.
 
Im Rahmen unseres Aufenthaltes besuchten wir das Lepradorf Tala, unweit von Tondo gelegen. Lepra, früher auch als Aussatz bezeichnet,  eine wenig ansteckende, heute gut behandelbare Infektionskrankheit, hat immer schlechte Hygiene und durch Unterernährung hervorgerufene Schwäche des Immunsystems zur Voraussetzung. Es war das erste Mal, daß ich mit dieser in Mitteleuropa kaum noch vorkommenden Erkrankung in Berührung kam. Alle Stadien boten sich dar - bis hin zu dem gröbsten Zerstörungen im Kopfbereich und an den Gliedmaßen. Dem unermüdlichen, heute über 90-jährigen Krefelder Arzt Dr. Otto Paulischek, Mitarbeiter der ersten Stunde der Organisation "Ärzte für die 3. Welt" ist es in erster Linie zu verdanken, daß das Lepradorf großzügige Unterstützung erfährt.
 
Ein weiterer Einsatz führte uns in das kleine Dorf Salapadan in der nördlichen Provinz Abra. Unvergesslich bleiben mir bis heute die Fahrt durch eine wilde Landschaft, die Gastfreundschaft der Menschen sowie die vielen hundert Patienten, welche wir pro Tag durch unsere improvisierte Ambulanz schleusten. Ohne unsere Englisch sprechenden Krankenschwestern hätten wir nicht den Hauch einer Chance gehabt.
 
Eine Flugstunde von Manila entfernt liegt die Insel Palawan, letztes Ziel unserer Reise. Angekommen in der Hauptstadt Puerta Princesa wurden wir - nicht zum ersten Mal - mit den Unwägbarkeiten des philippinischen Gesundheitssystems konfrontiert. Offenbar hatte die die Provinzverwaltung überall verkünden lassen, die German Doctors würden im Hospital so ziemlich jeden operieren, der sich dort einfinden würde. Und so erwartete uns eine große Menge Patienten, die sich Linderung und Heilung erhofften. Diesem Ansinnen konnten wir, insbesondere mangels mitreisendem Chirurgen, leider nicht nachkommen. Der Gouverneur lud zu einem opulenten Mahl, stellte weitere schöne Tage in Aussicht, was wir dankend ablehnten. Da das Krankenhaus über wenig Medikamente verfügte - ein eigenes Kapitel, denn die durchaus vorhandenen landeten in den Taschen derjenigen, die an der Quelle saßen - kauften wir mit unserem eigenen Geld und der großzügigen Hilfe des Bischofs, der uns auch seinen Wagen zur Verfügung stellte, das Notwendige und machten uns auf dem Weg in ein kleines Dorf, wo seit Menschengedenken kein Arzt gesichtet worden war. Auch hier wurden wir herzlich aufgenommen und gaben unser Bestes.
 
Es fällt schwer, all diese Eindrücke zusammenzufassen: jedenfalls kehrte ich sehr demütig, geerdet und nachdenklich in meine high-tec-Welt zurück.  
 
 
1985 machte ich mich nochmals privat auf den Weg auf die Philippinen und arbeitet einen Teil meines Urlaubes im Canossian Health Care and Social Center.